Das Fachgebiet der Sozialmedizin betrachtet Gesundheit und Krankheit in den jeweiligen gesellschaftlichen Zusammenhängen. Bei psychischen Erkrankungen ergeben sich häufig sozialmedizinische Fragen hinsichtlich der Teilhabe von Menschen beispielsweise

  • am Arbeitsleben und der Möglichkeit zum eigenständigen Lebensunterhalt (inkl. Beurteilung der gesundheitsbedingten Einschränkungen, bestimmte Arbeitsleistungen zu erbringen)
  • am sozialen Leben (Bedarf an Assistenzleistungen, Unterstützung beim Wohnen),
  • an Bildung, Kultur und Weiterentwicklung

Bestehen Funktionsstörungen, Barrieren oder Teilhabeeinschränkungen durch psychische Störungen, werden diese häufig als Behinderungen bezeichnet und in unterschiedlichen Rechtskontexten auch quantifiziert, um Sozialleistungen, Förderungen und Nachteilsausgleiche zu ermöglichen.
Im Begriff Sozialmedizin ist bereits eine sozial(wissenschaftlich)e Perspektive implementiert und alle psychischen Erkrankungen haben -in jeweils unterschiedlichen Gewichtungen- sowohl biologisch-medizinische, als auch psychologische und gesellschaftliche Einflussfaktoren („bio-psycho-soziales Modell“).

Dennoch haben die Psychologie und Psychotherapie in der Sozialmedizin in der Vergangenheit höchstens die Rolle von Hilfswissenschaften eingenommen, die, wenn überhaupt, der medizinischen Einschätzung und Beurteilung durch „Fachbeiträge“ oder „Zusatzgutachten“ zuarbeiteten.

Diese Priorisierung lässt sich auch historisch erklären: Die Diagnostik und Behandlung psychischer Erkrankungen erfolgte überwiegend stationär in Krankenhäusern, anfangs noch neurologisch-psychiatrischen Anstalten, also nachvollziehbarerweise mit einem eher somatomedinischem Verständnis psychischer Prozesse.

Diese Nervenheilanstalten sind inzwischen psychiatrisch-psychotherapeutische Fachkrankenhäuser geworden und stellen einen wichtigen, aber nicht mehr den einzigen   Bestandteil der Behandlung psychischer Erkrankungen dar: Behandlungsleitlinien empfehlen wann immer möglich ambulante Settings und entsprechend entwickelte und diversifizierte sich das sozialpsychiatrische ambulante Setting.

Mit dem Psychotherapeutengesetz von 1999 waren approbierte Psychologische Psychotherapeuten im ambulanten kassenärztlichen System eigenständig in der Diagnostik und Behandlung psychischer Erkrankungen zugelassen, mit späteren Befugniserweiterungen durch den G-BA auch zur Verordnung von Rehabilitation, Psychiatrischer Krankenpflege, Ergotherapie und Krankentransporten ermächtigt. Seit dem MDK-Reformgesetz werden sie in medizinischen Diensten (MD) zur Prüfung psychiatrischer Krankenhausbehandlungen und Arbeitsunfähigkeit aufgrund psychischer Erkrankungen tätig und in Maßregelvollzugsgesetzen verschiedener Bundesländer sind sie als therapeutisch letztverantwortliche Einrichtungsleiter:innen von Kliniken zugelassen.

Diese Weiterentwicklungen des Berufsbildes führen auch zu einer regelmäßigeren Hinzuziehung in sozialmedizinischen Fragestellungen an Gerichten und Bestätigung dessen durch Obergerichte.

Durch die Option der Vergabe der Zusatzbezeichnung Sozialmedizin durch die Psychotherapeutenkammern, die schrittweise Aufnahme der Thematik in die Aus- bzw. (Fach-)weiterbildungscurricula insbesondere angesichts der Reform des Psychotherapeutengesetzes 2020, sowie nicht zuletzt durch kontinuierliche Forschung und Publikationen wird sozialmedizinische Expertise künftig breiter und regelmäßiger in der Berufsgruppe angelegt und verankert sein.

 

 

Empfehlenswerte Links und Veröffentlichungen zur psychologisch-psychotherapeutischen Sozialmedizin und sozialmedizinischen Begutachtung:

Weiterbildung Sozialmedizin für Psychotherapeut:Innen der Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen Bremen e. V.:
https://www.gesundheit-nds-hb.de/veranstaltungen/weiterbildung-sozialmedizin-2/

Publikationen der Arbeitsgruppe um Prof. Muschalla, TU Braunschweig: https://www.tu-braunschweig.de/psychologie/klinische/mitarbeiterinnen/muschalla/publikationen-1

Ausführliche Erläuterungen zu Entwicklungen des Berufsbildes des Psychologischen Psychotherapeuten mit Schwerpunkt der Begutachtung (kostenpflichtig, sonst via researchgate): https://www.medsach.de/originalbeitraege/die-neufassung-des-psychotherapeutengesetzes-aendert-sich-die-qualifikation-von

Veröffentlichung „Sozialmedizinische Therapie“ – Gute Zusammenfassung des Status Quo bzgl. sozialmedizinischen und -psychiatrischen Arbeitens:

https://shop.kohlhammer.de/sozialmedizinische-therapie-bei-psychischen-erkrankungen-45405.html#147=19

Rechtliche Einordnung zu relevanten Begriffen im medizinischen und psychotherapeutischen Bereich:
https://link.springer.com/article/10.1007/s00350-023-6607-5

Die Deutsche Gesellschaft für Psychologische Begutachtung (Herausgabe diverser Begutachtungsleitlinien für den sozialrechtlichen Bereich):
https://www.dgpsb.eu/